For the Love of Lingerie

Januar 19, 2018






Mary blickte entnervt in den Spiegel. Die Nähte ihres Mieders zeichneten sich deutlich unter ihrem enganliegenden Kleid ab. „Nein, nein, nein! So geht das nicht“, rief sie und zog das Kleid entnervt wieder aus, riss sich das Korsett vom Leib und setzte sich in ihrem Ankleidezimmer auf den Stuhl. Wie konnte man nur etwas so grauenvoll Unbequemes wie ein Korsett tragen wollen? Sie hasste es. Es schnitt ihr in den Leib und presste alles zusammen, sodass sie kaum atmen konnte. Auf einmal entdeckte sie die zwei rosafarbenen Taschentücher aus Seide, die ihr ihre Dienstmagd Anne auf ihren Waschtisch gelegt hatte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie kramte nach den blassrosafarbenen Bändern, die ihr ihre Mutter mitgebracht hatte und rief nach dem Dienstmädchen. Zusammen schnitten sie die Stoffe zurecht, nähten die Bänder an jeweils einer der Seiten des seidenen Taschentuches an, verbanden die beiden Stücke Stoff in der Mitte miteinander und nähten den Rest des Bandes unten an den Rändern der Seidenstoffe entlang an, um sie somit als Unterbrustband miteinander zu verbinden und hinten am Rücken zusammen zu schnüren. Der BH war geboren!


So oder so ähnlich könnte sich die Geschichte der 19jährigen Mary Phelps Jacobs abgespielt haben, die sich im Jahre 1914 auf eigene Faust ihren ersten BH zusammenschneiderte. Obwohl die Idee des BHs während dieser Zeit von unterschiedlichen Personen unabhängig voneinander entwickelt wurde, ist die Geschichte von Mary wohl die bekannteste.
Mit diesem kleinen Schritt in Richtung körperlicher Emanzipation begann die Selbstbestimmung der Frauen. Wir wurden selbstbewusster, eigenständiger und begannen uns unsere Welt langsam nach unseren eigenen Vorstellungen zu schaffen.



Balconette BH von Chantelle, High Heel von Sam Edelman, Chanel Poudre Universelle Libre von Chanel, My Burberry Black Eau de Parfum von Burberry, Incense Duftkerze von Rituals, "Undressed" Bildband von Mario Testino.


In den berühmten 20er Jahren befreiten sich die Frauen von langen Kleidern, engen Korsetts und verstaubten Moralvorstellungen. Das Flapper Girl sowie die Garçonne waren geboren. Sie wollten sich den alten Schönheitsidealen der Männer nicht mehr länger beugen und schufen ihre eigenen. Brüste wurden eng zusammengebunden und Rundungen kaschiert. Männer waren aufgrund des ersten Weltkrieges rar geworden und Frauen sehnten sich danach, ihr Liebesglück in die eigenen Hände zu nehmen. Sie begannen sich zu schminken, zu schmücken, zu tanzen und zu flirten was das Zeug hielt.

Die 30er Jahre brachten den Wunsch nach Kurven jedoch zurück und so wurde erstmals eine Art Shapewear entwickelt. Frauen trugen Hüftgürtel, Hüftmieder und der BH bekam richtige Cups. Madleine Vionett erfand den Schrägschnitt und macht es möglich, dass Kleider eng am Körper anliegend getragen werden konnten, ohne auf Bewegungsfreiheit verzichten zu müssen. Lingerie wurde zunehmend wichtiger im Leben der Frauen. Sie ermöglichte ihnen, sich frei zu fühlen, selbstbestimmt und sexy.

Sogar in den 40er Jahren, als der zweite Weltkrieg Sparsamkeit von den Menschen erforderte, wollte die Frau nicht auf Lingerie verzichten. Sie malte sich die schwarze Strumpfnaht schlicht auf die nackten Beine, um so die Illusion eines Seidenstrumpfes entstehen zu lassen. Auch Spitzeneinsätze und zahlreiche Verzierungen fanden dank des Krieges ihren Weg in unsere Unterbekleidung. Reste aus Spitze, Borten und Tüll wurden eingesetzt wo es nur ging, um die Stoffknappheit zu kompensieren.

In den 50er Jahren erlebten dann die Pin-ups ihren Höhepunkt und beeinflussten somit auch eine größere Vielfalt an Dessous und Negligés. Reizwäsche wurde ihnen zum Dank ein großes Thema. Männer ließen sich von vielen Schichten aus Stoff nicht mehr erregen: Die Nachfrage nach Lingerie stieg. Auch das Nachthemd erlebte eine drastische Entwicklung. Frauen durften sich in Filmen zur damaligen Zeit nicht nackt zeigen, sondern mussten zumindest mit einem leichten Hemdchen bekleidet sein. Um diesen Moralkodex zu umgehen, wurde die Nachtwäsche immer provokanter und knapper. Das bekannte Babydoll, welches bis dahin nur von kleinen Mädchen getragen wurde, erlangte so im Jahre 1956 durch den gleichnamigen Film "Baby Doll" auch bei erwachsenen Frauen an Popularität. Der erste Push-up-BH, den die Marke Scandal damals noch mit aufblasbaren Körbchen auf den Markt brachte, stammte ebenfalls aus dieser Zeit.



BH und Shorts von Marie Jo, Estée Lauder Double Wear Foundation von Estée Lauder, Shiseido Perfect Hydrating BB Cream von Shiseido, Bulgari Omnia Crystalline Eau de Parfum von Bulgari, Green Cardamom Duftkerze von Rituals, Laurent Perrier Cuvee Rose Champagner.


Durch Twiggy und Models wie Lauren Hutton änderte sich das Schönheitsideal der kurvigen, weiblichen Frau in den nächsten beiden Dekaden hin zu einem kindlicheren und androgyneren. Das spiegelte sich auch in der Wäscheindustrie wieder, die nun begann hauptsächlich auf BHs aus Lycra zu setzen in Triangelform, ohne Bügel und in Kombination mit Minislips. Alles wurde schlichter und sportlicher, aber auch bunter. 

In den 70er Jahren gewann die Erotik erheblich an Einfluss in allen Medien und der Markt wurde mit Pornoheften regelrecht überschwemmt. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre eine feministische Frauenbewegung. Sie befreiten sich vom BH als Zeichen von gesellschaftlichen Restriktionen, des männlichen Establishments und Chauvinismus. 

In den 80er Jahren traten die Dessous dann so, wie wir sie heute kennen mit Tangas, Rio-Slips und Strings ihren Siegeszug an. Der Push-up erreichte in den 1990ern seinen Höhepunkt und die schlichte Baumwollunterwäsche hielt sich dank Umweltbedenken und den berühmten Calvin Klein Kampagnen neben erotischen Dessous auf dem Markt.
In dieser Zeit findet die Lingerie auch ihren Weg in die Oberbekleidung mit dem berühmten Naked Dress. Nahtlose und somit unter der Kleidung unsichtbare Wäsche aus speziellen Materialien sowie Shapewear wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten immer beliebter.



Balconette BH von Marie Jo, The Ritual of Hammam Body Cream von Rituals, Acqua Di Gioia Eau de Toilette von Giorgio Armani, Estée Lauder Day Wear Moisturizer von Estée Lauder, Schmucktasche von KOKON, Coffee Table Book "Tropical Style" von Periplus Publishing.


Und heute? Das wohl bekannteste Luxus Lingerie Label Agent Provocateur macht exklusive Dessous zu einem Lebensgefühl, viele der Trends von früher wurden weiterentwickelt und Frauen entscheiden heute individuell, ob sie, so wie ich persönlich, bekennende Dessous Liebhaberinnen sind oder es untendrunter lieber etwas casual und sportlich angehen lassen.

Das Tragen von Lingerie hat einen neuen Inhalt bekommen: Frauen wollen sich in ihrer zweiten Haut stark, selbstbewusst, sexy und unabhängig fühlen - unabhängig von den maßnehmenden Blicken, Vorstellungen und Wünschen der Männer. Wir können und wollen sie sich für uns selbst leisten, und nicht für einen Mann. Und wenn dieser daran zufällig Gefallen findet, dann ist das der schönste Nebeneffekt. Wer weiß, ob Mary Phelps Jacobs sich das je hätte träumen lassen, dass zwei Taschentücher soviel in Bewegung bringen können?

Vielen Dank an das Wäschegeschäft "Die Linie" aus Murnau, welches in den Jahren 2009 und 2014 mit dem Sous Award in der Kategorie "Personal Touch Shops" ausgezeichnet wurde, für die Leihgabe dieser wunderschönen Dessous! 

Oberstes Bild: BH und String von Marie Jo, Happy Diamonds Icons Ohrstecker von Chopard, Ring und Armband privat, Coco Mademoiselle Eau de Parfum von Chanel, Roman "Kleine große Schritte" von Jodi Picoult.




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